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Betrachtungen über die Regeln des Go-Spiels
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Autor Eintrag
bernhard
Fr 24 Jun. 2005, 19:31
Gast
Christian Zak

Betrachtungen über die Regeln des Go-Spiels


Die Regeln des Go-Spiels, wie sie im Laufe des 20. Jahrhunderts in Deutschland übernommen wurden und wie sie heute im allgemeinen in Deutschland praktiziert werden, gelten als in sich geschlossen, logisch und im praktischen Spiel leicht zu handhaben. Dennoch kann es zu Situationen im praktischen Spiel kommen, in denen ein uneinsichtiger Spieler oder ein querköpfiger Anfänger Unfrieden stiftet und nur durch die überlegene Autorität des jeweiligen anerkannt besten anwesenden Spielers zur Ruhe gebracht werden kann. Das wäre dann ganz im Sinne der Traditionen des Go, das in Japan auch ohne fixierte Regeln zu hoher Blüte gelangte. Streitigkeiten wurden in letzter Instanz durch den höchsten Go-Beamten des Reiches (Meijin godokoro) geregelt. Das war auch eine Konsequenz dessen, da?? die Japaner bis zu ihrer gro??en Erneuerung im Jahre 1868 in einer vormodernen Welt lebten, in der objektive, formale Regeln für Entscheidungen nur eine geringe Rolle spielten. Die althergebrachte Autorität galt als legitimer Richter. Entscheidungen durch Autorität sind auch aus der modernen Welt, in der wir leben und Go spielen, nicht wegzudenken. Die Autorität des Richters entscheidet - im Rahmen der Gesetze - in Rechtsstreitigkeiten, und in letzter Instanz entscheiden die Autoritäten des Bundesgerichtshofs oder des Bundesverfassungsgerichts. Dennoch mu??te in diesen letzten Satz ein ???im Rahmen der Gesetze??? eingefügt werden, weil bei aller Achtung vor den genannten Autoritäten doch das Ideal einer möglichst von Willkür freien, rein objektiv-rationalen Entscheidung gemä?? den Regeln, die bereits vor dieser Entscheidung galten, verfolgt wird. Und dementsprechend ist es für einen modernen Go-Spieler, der selbständig denkt und der mit Argumenten überzeugt werden will, die befriedigendste Lösung des Streits um Go-Regeln, wenn der beste Spieler seine Entscheidung auch mit objektiven Argumenten begründen kann.

Worüber können überhaupt Streitigkeiten entstehen? Eine der hauptsächlichen Quellen für Streitigkeiten ist die Konzeption des Gebiets.

1. Was ist Gebiet?

Wer über das Go-Spiel näher unterrichtet ist oder den Sachverhalt vielleicht auch bei persönlichen Bekanntschaften selbst erfahren hat, wird wissen, da?? es auf diese Frage, die sich immerhin auf das Kriterium für Sieg oder Niederlage im Go bezieht, eine chinesische und eine japanische Antwort gibt. Die Chinesen haben sich dafür entschieden, da?? am Ende einer Partie die auf dem Brett befindlichen Steine und die von ihnen umschlossenen freien Punkte das Gebiet bilden und die Gefangenen keine Rolle spielen, wohingegen die Japaner nur die umschlossenen freien Punkte, die nach Hineinsetzen der Gefangenen übrigbleiben, gelten lassen. Bei der chinesischen Auffassung sind die sogenannten neutralen Punkte für den Spieler, der sie zu besetzen in der Lage ist, je einen Punkt wert, während sie nach japanischer Ansicht wertlos sind. Wie schon oft bemerkt worden ist, bildet dieser Wert der neutralen Punkte bei den meisten Partien den einzigen Unterschied im Ergebnis zwischen beiden Auffassungen. Haben beide Spieler gleichviel neutrale Punkte besetzen können, ist der Unterschied gleich Null, hat einer der Spieler aber einen der neutralen Punkte mehr besetzen können, so differiert das Ergebnis einer Partie je nach chinesischer oder nach japanischer Zählung um einen Punkt. Das ist alles. Zu beachten ist lediglich noch, da?? in den Grenzen des bisher Gesagten nach chinesischen Regeln ein Jigo - Unentschieden - auf dem Brett nicht entstehen kann, weil die Addition der von beiden Gegnern erreichten Punkte immer 361 ergibt und auf dem Brett keine halben Punkte vorkommen.

Anders liegt die Sache allerdings, wenn auf dem Brett am Ende wenigstens ein Seki vorliegt. Denn in diesem Falle werden von den Chinesen ja die in das Seki investierten Steine bewertet. Dieser Fall wirft weitere Probleme auf. Wie sollen bei chinesischer Zählung die freien Punkte behandelt werden? Hier gibt es mehrere Lösungen, zumal die freien Punkte eines Seki in zwei Klassen zerfallen, nämlich erstens jene Punkte, die einzig Steinen der einen von beiden Farben benachbart sind, und jene Punkte, die Steine beider Farben zu Nachbarn haben. In der Logik der chinesischen Zählung liegt es, diejenigen freien Punkte eines Seki, die ganz zu der einen Partei gehören, auch als Gebietspunkte für diese Partei zu betrachten. Die anderen, nicht besetzbaren, den neutralen Punkten der japanischen Zählung analogen, Punkte eines Seki sollten gemä?? chinesischer Auffassung als zwischen beiden Parteien geteiltes Gebiet betrachtet werden und zu Bruchteilen von Punkten - je nach der Zahl der von jeder der beiden Farben besetzten Nachbarpunkte - zwischen den Parteien aufgeschlüsselt werden. Das liegt deshalb in der Logik der chinesischen Zählung, weil diese davon ausgeht, da?? bei einer Go-Partie die 361 Punkte des Brettes ohne Rest zwischen beiden Gegnern aufgeteilt werden. Bei dieser Behandlung des Ergebnisses kann dann auch bei chinesischer Zählung ein Jigo auf dem Brett entstehen, weil es dann möglich ist, da?? jede der beiden Parteien genau 180,5 Punkte erzielt hat.

Gibt es irgendwelche rationalen Argumente, die für eine der beiden geschilderten Zählweisen sprechen, oder sollten wir einfach bei den nun einmal in der Welt eingebürgerten Unterschieden in der Auffassung dessen bleiben, was Gebiet - mithin, was das Endziel einer Go-Partie - sein soll? Hier ist eine Untersuchung über die Regel des Passens hilfreich.

2. Das Recht, zu passen, hat bei unterschiedlichen Auffassungen von Gebiet auch unterschiedliche Folgen

Ohne das Recht eines jeden Go-Spielers, einen Satz nicht auszuführen, sondern auszulassen, also zu passen, könnte eine Go-Partie nicht auf faire Weise zu Ende gebracht werden. Den Beweis hierfür wollen wir indirekt führen, mithin zeigen, da?? bei der gegenteiligen Regel keine faire Beendigung einer Go-Partie mehr gewährleistet wäre.

Man kann sich unschwer eine Konstellation vorstellen, bei der etwa S (Schwarz) am Ende der Partie, d. h. bei einer Lage, in der keine der Parteien mehr Punkte gewinnen kann, mit zwei Punkten führt. Er habe fünf unverbundene Gebiete; W (Wei??) hingegen habe nur zwei unverbundene Gebiete. S benötigt daher zehn Augen zum Leben, W nur vier Augen. In dieser Situation könnte W darauf bestehen, da?? die Partie unentwegt fortgesetzt wird, jeder Spieler also in sein eigenes Gebiet setzen mu??. Wenn S schlie??lich noch zehn freie Punkte besitzt, gehören W noch acht freie Punkte. W kann somit noch vier Punkte besetzen, ohne eines seiner Augen auszufüllen. S auf der anderen Seite mu?? nunmehr auf eines seiner Augen verzichten. W tötet daraufhin die dazugehörige Stellung, und wenn er grausam ist, setzt er nunmehr dieses Spiel so lange fort bis S nicht einen einzigen Punkt auf dem Brett mehr sein eigen nennen darf. Wollte man dies ein faires Verfahren zur Ermittlung eines Siegers nennen, wäre das einheitliche Ziel einer Go-Partie, nämlich mehr Gebiet als der Gegner zu erobern, aufgegeben, und es wäre zusätzlich von Bedeutung, mit wieviel voneinander unabhängigen Stellungen das erfolgt. Eine ähnliche Regel wurde in China zur Zeit der Ming-Dynastie eingeführt (für jede unabhängige Stellung auf dem Brett, die einer der beiden Spieler mehr besa??, als der andere, mu??te er zwei Punkte abgeben; das Recht, zu passen, blieb natürlich bestehen, um einen Vernichtungssieg, wie er geschildert worden ist, zu verhindern); in Europa hat sie offiziell bisher keine Rolle gespielt. Man könnte die vorliegenden Meisterpartien aus der Geschichte des Go daraufhin untersuchen, ob nicht bei Annahme eines Verbotes zu passen, solange einer der Spieler das nicht ausdrücklich dem Gegner erlaubt, einige dieser Partien für jene Seite mit einem haushohen Sieg hätte enden müssen, die bei Beendigung der betreffenden Partie als Verlierer gegolten hatte. Ich halte es für wahrscheinlich, da?? man solche Partien finden könnte und vielleicht sogar mancher Titel an einen anderen Spieler gefallen wäre. Wie auch immer: Solange eine solche Regel nicht ausdrücklich formuliert und akzeptiert ist, kann sie nicht gelten. Ergo: Das Recht, zu passen, ist eine unverzichtbare Regel des Go-Spieles.

Dieses Recht, zu passen, zwingt aber bei der japanischen Auffassung von Gebiet zu der Folge, Zusatzregelungen einzuführen, die dieses Recht wieder einschränken und an Bedingungen knüpfen.

Da nach japanischer Zählung bei jedem Setzen in eigenes Gebiet ein Punkt verlorengeht, kann ein Spieler versuchen, vom anderen noch Deckungszüge zu verlangen oder sich zeigen zu lassen, da?? eine bestimmte Stellung auch tatsächlich tot ist, um an geeigneter Stelle zu passen und damit noch einen oder vielleicht auch mehrere Punkte zu gewinnen. Besonders geeignet ist hierfür der sogenannte Viererwinkel in der Ecke. In Japan wird dieser Viererwinkel, der eigentlich noch die Austragung eines Ko erfordert, daher für bedingungslos tot erklärt. Das kann man für unangemessen halten. Ein besonders einsichtiges Argument lä??t sich für diese radikale Entscheidung meines Erachtens nicht vorbringen. An diesem Punkt erweist sich die chinesische Regelung als überlegen, da sie ohne Verletzung der Fairness erlaubt, jede unklare Stellung auf dem Brett durch Fortsetzung des Spieles zu klären, wobei nach Herzenslust gepa??t werden darf.

3. Die Qual der ewigen Wiederkehr

Eine Partie Go sollte von Satz zu Satz fortschreiten, ohne da?? jemals eine Konstellation auf dem Gesamtbrett sich wiederholt. Denn die Idee des Spieles besteht darin, das Brett ausschlie??lich mit lebenden Steinen zu füllen, so lange bis von jedem einzelnen Punkt des Brettes gesagt werden kann, zu wessen Stellung er unwiderruflich gehört. Würde eine Stellungswiederholung vorkommen, ohne da?? dies bereits entschieden ist, so könnte über das Ergebnis der Partie nichts gesagt werden. Noch nicht einmal ein Jigo wäre bestimmt. Daher besagt die in Japan gültige Regel, da?? bei Positionen, in denen keiner der Spieler von einer Stellungswiederholung abweichen will, die Partie ohne jede Wertung abgebrochen wird. Genannt werden hier unter anderem Tripel- und noch höhere Mehrfach-Ko-Positionen. Im Unterschied hierzu werden die einfachen Ko-Positionen nicht dieser Regel unterworfen, sondern bei diesen wird die Gesamtbrett-Wiederholung einfach verboten. Wer sich bei einem einfachen Ko weigert, sich dem sofortigen Schlagverbot zu unterwerfen, der verliert seine Partie und veranla??t keineswegs deren Abbruch ohne Wertung, wie z.B. beim Tripel-Ko. Es ist auch völlig klar, da?? das so sein mu??, weil so mancher bei einer schwierigen Turnierpartie lieber die Nullwertung wählen würde, als den unvermeidlichen Verlust bei einem für ihn nachteiligen Alles-Oder-Nichts-Ko. Da dies nun einmal so ist, erhebt sich die Frage, was dagegen spricht, jegliche Gesamtbrett-Wiederholung ebenso zu verbieten wie das sofortige Zurückschlagen beim einfachen Ko. Abbruch ohne Wertung, weil ein Spieler sich weigert, von einer bestimmten Satzfolge abzuweichen, würde dann aus den Regeln verschwinden, und ich meine, da?? man dieser Regel auch nicht nachtrauern mü??te.

4. Das Selbstmordverbot ist sinnlos

Eine eigenartige Rolle spielt das Selbstmordverbot. Es steht im Grunde in keinerlei Zusammenhang mit den übrigen Go-Regeln und wird vermutlich aus rein traditionalen Gründen mitgeschleppt. Ich könnte einem Anfänger die Frage, warum beim Go der Selbstmord von Steinen oder Stellungen verboten ist, nicht mit vernünftigen Argumenten beantworten, au??er mit dem berühmten: ???Es ist eben so!???

Der Selbstmord eines einzelnen Steines ist nach chinesischer Zählung weiter nichts als ein Passen und kann diesem gleichgesetzt werden. In japanischer Zählung bedeutet er, dem Gegner einen Punkt zu schenken, und einem anderen etwas Gutes zu tun, sollte man nicht verbieten. Der Selbstmord mehrerer Steine kann unter Umständen als Ko-Drohung verwendet werden, nämlich dann, wenn dadurch eine augenreduzierende Form entsteht. Mithin wird dadurch ein Aji genutzt, und auch das ist dem Geist des Go-Spiels gemä??. Das Selbstmordverbot beschränkt somit entweder unnötigerweise die Potentiale des Spieles (im Falle mehrerer Steine), oder es ist einfach sinnlos (im Falle eines einzelnen Steines), weil es etwas völlig Unschädliches verbietet.

5. Zusammenfassung

Wie sich aus dem Gesagten ergibt, wäre es dem Geist des Go-Spiels gemä??, würde man sich auf folgende beide Grundregeln des Go einigen können:

1. Gebiet besteht aus den Steinen einer Farbe und den von ihnen lückenlos umschlossenen freien Punkten;

2. jeder Satz ist verboten, der zu einer Stellungswiederholung auf dem Gesamtbrett führen würde.

Leider stehen der Annahme des ersten Punktes au??er Gründen der Tradition (die man nicht unterschätzen sollte) auch noch praktische Gründe entgegen. Die chinesische Zählweise (es werden nur Steine und freie Punkte der einen Partei gezählt und dann an der Hälfte von 361, also an 180,5, gemessen) zerstört die auf dem Brett fixierte Endposition endgültig, und bei auftretenden Zählfehlern oder anderen Streitigkeiten kann es unmöglich sein, die Position zu rekonstruieren. Das sollte nun freilich bei Turnieren mit Notation keine Katastrophe sein, bedeutet aber dennoch eine nicht geringe Anstrengung. Wenn gesichert wäre, da?? jeder der beiden Spieler mit genau 180 Steinen angetreten ist, lie??e sich zählen, indem eventuell übriggebliebene Steine und die Gefangenen in beide Gebiete eingesetzt werden. Die übrigbleibenden Steine und das freibleibende Gebiet der Gegenpartei würden sich dann (im Falle, da?? kein Seki vorliegt) gut ergänzen und mit dem Ergebnis zugleich eine Probe für richtiges Zählen liefern. Bei einem Sieg von einem Punkt bliebe kein Stein übrig, und es bliebe gerade dieser Punkt im Feld der siegreichen Partei frei.

Der Taiwan-Chinese Ing Chang Ki hat Spezialdosen entworfen und gebaut, die die richtige Zahl der Steine leicht prüfen lassen. Doch bringt das nun wiederum einen zusätzlichen Aufwand mit sich, der bei der Werbung für das Spiel und auch für die laufende Spielpraxis sicherlich eine klare ??berforderung bedeuten würde.

Es wird wohl für die nächsten Jahre und Jahrzehnte bei uns bei den japanischen Regeln und ihren kleinen inneren Widersprüchen bleiben, die im Grunde die Spielpraxis nur unwesentlich beeinträchtigen. Fortgeschrittene Spieler und solche, die sich viel um die Popularisierung des Go bemühen, machen aber bestimmt keinen Fehler, wenn sie über die Kohärenz der Regeln und ihren Sinn nachdenken.

Berlin, Januar 2005

(Bernhard Runge: Ich habe diesen Text mit Einwilligung von Christian Zak hier veröffentlicht)
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